Jerusalem - Ein historischer Längsschnitt

Jerusalem - Ein historischer Längsschnitt
Jerusalem - Ein historischer Längsschnitt
 
Siedlungsspuren sind für Jerusalem seit 3150 v. Chr. archäologisch bezeugt. Als fest ummauerte Stadt, deren 2 m starke Stadtmauer durch die neueren Ausgrabungen auf einer Länge von 20 m nachgewiesen wurde, wird Jerusalem für uns ab 1800 v. Chr. erkennbar. Die Anlage der Stadt an diesem Ort entsprach den Voraussetzungen, die in Kanaan zur Gründung von lebensfähigen Städten notwendig waren: Das älteste Jerusalem lag auf dem heutigen Südosthügel, der durch die ihn von allen drei Seiten umgebenden Täler - im Osten das Kidrontal, im Süden das Hinnomtal, im Westen das Zentraltal beziehungsweise das Tyropoion- oder Käsemachertal - strategisch geschützt war. Lediglich nach Norden war der natürliche Schutz geringer. Die erste Nordgrenze der Stadt ist archäologisch unsicher; möglicherweise gab es auch hier zwischen der Stadtmauer und dem nördlich, außerhalb der Stadt auf dem späteren salomonischen Palasttempelareal gelegenen (offenen) Heiligtum eine erst durch Salomo aufgefüllte Mulde, die einen gewissen Schutz darstellte. Anlass, auf diesem Hügel (und nicht etwa auf dem östlich davon gelegenen höheren Hügel des heutigen Ölbergs) zu siedeln, war die am Osthang dieses Hügels gelegene Gichonquelle, die die Wasserversorgung der Stadt garantierte. Die Stadt kontrollierte die wichtigen Verbindungsstraßen zwischen der Küsten- und der Königsstraße. Und nicht zuletzt: In der Umgebung (etwa im Rephaimtal und im terrassierten Ackerbau auf den Hängen der Täler der Umgebung) gab es genügend bebaubares Ackerland.
 
Soweit die archäologischen Funde nach ihrer jüngsten Deutung erkennen lassen, war das spätbronzezeitliche, vorisraelitische Jerusalem eine monumental ausgebaute Stadt. Die massiven Hangterrassierungen und ein mächtiges Steinpodium an der Nordostecke der damaligen Stadt oberhalb der Gichonquelle, das mit seinen Steinpackungen etwa 40 m breit und 27 m hoch war - es wurde durch die Archäologen freigelegt und ist heute sichtbar -, trugen Stadtpaläste und die Residenz der kanaanäischen Stadtkönige von Jerusalem, in der dann auch David residierte.
 
Jerusalem war von dem allgemeinen Schwund der kanaanäischen Stadtkönigtümer offensichtlich nicht betroffen. Die Tatsache, dass König David sich diese Stadt als demonstratives Machtzentrum auswählte, spricht dafür, dass hier (neben einigen anderen Städten im Land) eine Enklave mitten in der israelitischen Stämmegesellschaft »überlebt« hatte. Sein Nachfolger, König Salomo, errichtete den Tempel als Wohnort für den Gott Jahwe und machte damit Jerusalem in einzigartiger Weise zur »Gottesstadt«. Außerdem erweiterte er die Stadt nach Norden zu.
 
Im ausgehenden 8. und/oder beginnenden 7. Jahrhundert erfuhr Jerusalem nachweislich zwei bedeutsame städtebauliche Veränderungen; hinzu kommt, dass aus dieser Epoche auch archäologische Funde eine kulturelle Blütezeit dokumentieren.
 
Aufgrund der allgemeinen Stadtentwicklung, insbesondere aber durch den gewaltigen Zustrom von Flüchtlingen aus dem 722 v. Chr. von den Assyrern besetzten Nordreich Israel war die Bevölkerung Jerusalems so stark angewachsen, dass die Stadt nun unter König Hiskia auf den Westhügel erweitert und mit einem neuen, weit ausgreifenden Mauerring umgeben wurde. Von dieser Mauer, die die neuen, »Mischne« (= Zweitstadt) und »Maktesch« (= Mörser) genannten Stadtteile einfasste, wurde bei den Ausgrabungen von 1969 bis 1978 ein 65 m langes und 3 m breites Teilstück freigelegt. Gegenüber dem Areal des salomonischen Jerusalem bedeutete dies eine Vergrößerung von 18 Hektar auf 60 Hektar.
 
Der sprunghafte Bevölkerungsanstieg und vermutlich auch strategische Erwägungen lösten die zweite städtebaugeschichtliche Veränderung aus: den Hiskia-Tunnel. Diese technische Meisterleistung leitete durch einen S-förmig gewundenen, unterirdisch durch den Hügel getriebenen Kanal von 533 m Länge und mit einem Gefälle von 6 % die Wasser der Gihonquelle in einen an der Südwestecke des vorisraelitischen Jerusalem, an der Schnittstelle zum »neuen« hiskianischen Areal gelegenen Teich, der innerhalb der neuen Stadtmauer lag und damit strategisch geschützt war. Vermutlich hatte der Kanal mehrere Schöpfstellen und bot damit die Möglichkeit, die zahlenmäßig angewachsene Bevölkerung besser und sicherer zu versorgen. Über die Anlage dieses Wassertunnels gibt uns eine Tafel Auskunft, die Hiskia anbringen ließ und die heute original im Museum von Istanbul zu besichtigen ist. Schon vor Hiskia war die Gichonquelle unterirdisch in das Stadtinnere geleitet worden, damit die Bevölkerung in Kriegszeiten ohne Gefahr, vermutlich aber auch in Friedenszeiten zur Abkürzung des Weges nach außen durch (lederne) Schöpfeimer Wasser ziehen konnte. Diese Anlage heißt nach ihrem Entdecker, dem britischen Offizier und Archäologen Sir Charles Warren, »Warren-Schacht«. Unklar, auch umstritten ist, ob sie aus vorisraelitischer Zeit stammt; in diesem Fall bringen manche Forscher die textlich schwer verständliche Erzählung des 2. Buches Samuel über die Eroberung Jerusalems durch David beziehungsweise die List seines Heerführers Joab mit diesem Wasserschacht in Verbindung. Wahrscheinlicher dürfte es sein, dass er erst in der frühen israelitischen Königszeit angelegt wurde.
 
Jerusalem wurde 587 v. Chr. durch die Babylonier erobert. Die Brandschatzung des Tempels und der Paläste, die Schleifung der Stadtmauern und die Verschleppung der politischen und kulturellen Oberschicht nach Babylonien bedeuteten einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Jerusalems, von dem sich die Stadt eigentlich erst wieder im 1. Jahrhundert v. Chr. erholte. Pfeilspitzen und Zerstörungsspuren, die an der »breiten Mauer« gefunden wurden, und die in das Kidrontal abgerutschten Terrassierungen sind archäologische Zeugnisse für die Radikalität der gewaltsamen Zerstörung Jerusalems von 586 v. Chr.
 
Nach dem Ende der babylonischen Herrschaft und mit dem Beginn der insgesamt toleranten Religionspolitik der Perser rückte auch der Wiederaufbau Jerusalems nahe. 515 v. Chr. wurde der an alter Stelle erbaute, aber insgesamt bescheidenere »Zweite Tempel« eingeweiht. Doch erst um 445 v. Chr. erlaubten die Perser den Wiederaufbau und Neubau der Stadtmauer. Diese Stadtmauer, die unter dem persischen Staatsmann Nehemia errichtet wurde, umspannte in etwa, wenn auch in reduzierter Form, das salomonische Jerusalem, war aber auch bautechnisch viel bescheidener als ihre Vorgängerin. Nach Ausweis der Makkabäerbücher vollzog sich zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. die Hellenisierung der Stadt und des Tempels. Es wurde ein Gymnasion errichtet, in dem sportliche Wettkämpfe ausgetragen wurden, südlich des Tempels entstand die Besatzungsburg Akra. Im Tempel wurde über dem Brandopferaltar eine Götterstatue aufgestellt, die anscheinend dem »Baal des Himmels « gewidmet war, der dem griechischen Gott Zeus entsprach. Aus dieser hellenistischen Zeit, die zur makkabäischen Revolte und zum Befreiungskampf von der Oberherrschaft der Seleukiden führte, sind archäologisch keine Spuren zu finden.
 
Im 1. Jahrhundert v. Chr. erreichten die Hasmonäer, die westlich des Tempelareals ihren Königspalast errichtet hatten, eine Westerweiterung der Stadt auf den Umfang des Jerusalems unter König Hiskia; archäologisch konnte dies ansatzhaft nachgewiesen werden.
 
Einen städtebaulichen Höhepunkt brachte schließlich die Regierungszeit Herodes' I. (40 bzw. 37 bis 4 v. Chr.), der sich durch eine immense Bautätigkeit im ganzen Land und insbesondere in Jerusalem als »Augustus des Ostens« und als »Wohltäter des Judentums« einen Namen machen wollte. Er ließ sich um 25 v. Chr. eine königliche Residenz in sicherer Distanz am Rand der Stadt, an der westlichen Stadtmauer (bei der heutigen Zitadelle), errichten; sie umfasste eine Burg und eine südlich anschließende ungefähr 300 m lange Palastanlage mit Gärten, Säulenhallen und zahlreichen Prunkräumen. Vor allem schuf er eine neue Plattform für das gesamte Tempelareal, das er durch mächtige Stütz- und Umfassungsmauern bildete und mit kostbaren Hallenbauten umgab. Auch das Tempelgebäude selbst erfuhr, ohne dass der Kult unterbrochen wurde, eine Neugestaltung. Herodes ließ das ehrgeizige Tempelprojekt um 20/19 v. Chr. beginnen, das erneuerte Tempelgebäude wurde formell 10 v. Chr. eingeweiht, aber der Bau wurde erst 63 n. Chr. abgeschlossen. Dieser Tempel wurde 70 n. Chr. durch die Römer zerstört und eingeäschert. Ausgrabungen haben die bislang nur literarisch - bei dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus - bezeugte Tempelanlage des Herodes weitgehend erforschen können, sodass eine relativ gesicherte Rekonstruktion der Gesamtanlage, wenn auch nicht des Tempelgebäudes selbst, möglich ist.
 
Ausgrabungen im Jüdischen Viertel westlich des Tempelareals haben ebenfalls erstaunliche Ergebnisse erbracht. Es fanden sich mehrere Baukomplexe, die durch ihre Mosaikfußböden und ihre mit Stuck oder Fresken geschmückten Wände, aber auch durch das kostbare Mobiliar und die übrigen Kleinfunde als Stadtvillen einer wohlhabenden Oberschicht ausgewiesen sind. Auch diese Villen wurden, wie die aufgefundenen Brandschichten belegen, von den Römern zerstört.
 
Die Römer machten aus Jerusalem gezielt eine heidnische Stadt. Als Kaiser Hadrian 130 n. Chr. eine typisch römische Stadt mit dem Namen Aelia Capitolina anlegte und dabei die heiligen Orte des Judentums in der Stadt verwüstete, war dies einer der Gründe, die zum Bar-Kochba-Aufstand führten, den Rom mit gewaltigen militärischen Mitteln niederschlug.
 
Die Zerstörung Jerusalems durch die Römer bedeutete nach der Katastrophe von 587 v. Chr. einen weiteren dramatischen Tiefpunkt in der Geschichte der Stadt. Zugleich aber leitete sie eine neue Epoche Jerusalems ein, in der die Stadt zu einem bleibenden Symbol für die Dialektik von Zerstörung und Wiederaufbau, von Leid und Hoffnung, von real erfahrbarer Heimat und von Sehnsucht nach dem »himmlischen« Jerusalem geworden ist. Zu diesem Symbol wurde sie in erster Linie für die Juden, die dort seit der Gründung ihres Staates Israel im Jahre 1948 »ein Haus gegen den Tod« und wieder ein lebendiges Zentrum ihrer jüdischen Identität geschaffen haben. Zu diesem Symbol wurde sie aber auch für die Christen, die in der über dem vermuteten Felsengrab Jesu Christi errichteten Grabeskirche die Dialektik von Tod und Auferstehung aus den Toten darstellen, und für die Muslime, die im Felsendom im Gedenken an die Himmelfahrt des Propheten Mohammed die Berührung von Himmel und Erde in Jerusalem festhalten.
 
In der Faszination ihrer Lage und ihrer Architektur ist Jerusalem sodann die Einladung an alle, an der Utopie festzuhalten, die sich schon in biblischer Zeit am Namen der Stadt Jerusalem inspiriert hat - dass Menschen und Völker unterschiedlicher ethnischer Herkunft und religiöser Traditionen in einer Welt zusammenleben können, die »eine Stadt des Friedens« werden muss.
 
Prof. Dr. Erich Zenger

Universal-Lexikon. 2012.

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